Hundeerzieherin/Verhaltensberaterin IHK
Das Problem ist die Lösung – Problemverhalten mal anders gesehen (28.02.2024)

Das Problem ist die Lösung – Problemverhalten mal anders gesehen (28.02.2024)

Probleme – wer hat sie, wer macht sie und was hat es für Auswirkungen? In unserer Gesellschaft liegt der Fokus häufig auf Defiziten, die es auszugleichen gilt und Problemen, die gelöst werden müssen. Dabei steht das Problemverhalten sowohl bei Hund als auch bei Mensch an scheinbar erster Stelle. Das zeigte sich auch schon immer in meiner Arbeit, sowohl in der Sozialpädagogik, als auch im Hundetraining. Es gibt Probleme mit dem Kind, mit dem Hunde oder mit anderen Dingen, die man alleine wohl nicht mehr in den Griff bekommt. Mein Auftrag: Das Problem zu lösen oder zumindest Anleitung zu geben, dass man das Problem möglichst schnell selbst lösen kann. Nicht immer so einfach.

Doch warum? Das kann sehr vielfältige Gründe haben. Ich werde mich hier allerdings nur auf einen beschränken, nämlich den, dass das Problemverhalten meist eine Lösung ist. Mit Absicht schreibe ich hier EINE Lösung und nicht DIE Lösung. Doch was meine ich damit?

Schauen wir uns erst einmal an, wer definiert, ob es ein problematisches Verhalten ist, oder nicht: Das sind zumeist Andere. Freunde, Familie, die Eltern, Lehrer oder im Falle des Hundes die Gesellschaft oder der Besitzer. Auch hier ist die Liste vermutlich unendlich erweiterbar. Nun sitz ich also da und zeige ein Verhalten, welches für die Anderen problematisch erscheint. Damit meine ich nicht, dass das gezeigte Verhalten nicht auch negative Auswirkungen auf den Ausführenden haben kann und somit auch in einer gewissen Weise für ihn schädlich ist – das eine schließt das andere nicht aus. Unser Umgang mit Problemen ist meist simpel: Es muss gelöst werden, bzw. das gezeigte problematische Verhalten soll nicht mehr gezeigt werden. Und da stoßen wir sowohl in der Pädagogik als auch im Hundetraining oft an unsere Grenzen. Und das ist auch logisch, denn ich als Außenstehender versuche ein Verhalten zu ändern, was ich oder Andere als problematisch definiert haben. Merkt ihr was? Da wurde bislang noch nicht der Ausführende des Verhaltens berücksichtigt. Und eine wirkliche Änderung von Verhalten kann nur effektiv geschehen, wenn das Individuum dies auch will. Puh, schon gar nicht mehr so einfach, was?

Aber in vielen Fällen ist es deutlich einfacher als gedacht, wenn wir einen Perspektivwechsel zulassen: Jedes Verhalten, welches ein Individuum zeigt, „lohnt“ sich in einer gewissen Art und Weise oder war zumindest mal zielführend. Das heißt konkret, vieles was wir als problematisches Verhalten ansehen, ist bereits die Lösung für ein Problem, welches wir vielleicht noch gar nicht erfasst haben. Ich formuliere es noch einmal ein wenig anders, weil ich es so wichtig finde: Das Problemverhalten ist bereits eine Lösung auf ein zugrundeliegendes Problem. Und zwar meist die einzig für das Individuum sinnvoll erscheinende Lösung. Das heißt, es selbst konnte für sich keine andere oder effektivere Lösung finden. Das klingt hier erstmal ein wenig abstrakt, aber ich werde es anhand von zwei Beispielen erklären.

Nehmen wir zunächst ein Beispiel aus der Menschenwelt. Wir haben eine Jugendliche, etwa 14 Jahre alt, die durch viele schwierige Umstände eine Angstproblematik entwickelt hat und so belastet ist, dass sie nicht mehr in die Schule gehen kann. Was ist in diesem Fall das oberste Ziel? Richtig, dass die Jugendliche ganz dringend wieder beschulbar gemacht wird. Die Formulierung „gemacht wird“ ist hier nicht zufällig gewählt. Denn die Eltern, Jugendhilfe und andere Unterstützer sind nun dazu verpflichtet, dies als oberstes Ziel zu gewährleisten. Denn Schule ist wichtig. Ich übertreibe gezielt. Natürlich ist die Schule wichtig, aber wäre es an diesem Punkt vielleicht nicht wichtiger, an der Angstproblematik des Mädchens und deren Ursache zu arbeiten? Ich denke schon. Zumal sich das Mädchen wohl nicht die Angstproblematik ausgesucht hat. Und trotzdem ist dies in gewisser Weise ein angebrachtes gesundes Verhalten auf ungesunde und unangebrachte Dinge, die das Mädchen erlebt hat. Nicht falsch verstehen, es gibt viele tolle Schulen, Jugendhilfemitarbeiter und Eltern, die das ebenso handhaben und nach den Ursachen schauen. Leider habe ich das Gefühl, diese befinden sich in der Unterzahl. Und so geht es darum zu funktionieren, wie es der Maßstab verlangt.

In der Hundewelt könnte es folgendes Verhalten sein, was als sehr störend empfunden wird. Der Hund pöbelt an der Leine, sobald er andere Hunde sieht. Das macht er mit Sicherheit nicht, weil es ihm so viel Spaß macht. Denn diese Aufregung verbraucht immense Energie und setzt dem Hund einen extremen Stress aus. Also nicht wirklich förderlich für den Organismus. Klar, man könnte jetzt sagen, der Hund könnte doch einfach ruhig an anderen Hunden vorbei gehen und dann hätte er den Stress nicht. Kann er aber scheinbar nicht, sonst würde er es wohl machen. Also ist die Frage, welche Funktion erfüllt das Pöbeln an der Leine für diesen einen Hund (da können durchaus unterschiedliche Motivationen dahinter stecken)? Gehen wir man davon aus, der Hund ist unsicher und hat Angst vor anderen Hunden. Die Leine hindert ihn an der Flucht oder dem Stehen-bleiben. Der Hund fühlt sich hilflos und will aus der Situation raus. Was bleibt, wenn Flucht und Erstarren nicht mehr zur Verfügung stehen? Genau, der Angriff. Mit dem Pöbeln an der Leine zeigt der Hund in diesem Fall dann also, dass die Situation für ihn so nicht auszuhalten ist und er den „Gegner“ vertreiben möchte, also sich Selbst in Sicherheit wiegen möchte. Wenn ich aber nur das Problem der Aggression an der Leine im Fokus habe, habe ich nicht die Chance die Ursache zu erkennen und dem Hund ggf. die nötige Sicherheit zu vermitteln. Vielleicht bekomme ich mit viel Ablenkung oder Druck das Symptom Aggression in den Griff, der Hund wir aber trotzdem das Problem in der Situation behalten. Weder fair noch effektiv.

Ich vergleiche das gerne mit einem Holzsplitter, den man im Finger stecken hat und der sich entzündet hat. Kein Mensch würde auf die Idee kommen alleine die Schmerzen mit Schmerzmittel zu behandeln, ohne die Ursache, nämlich den Splitter, zu entfernen. Warum ist das also bei Verhalten anders? Wenn ich anerkenne, dass jedes Verhalten eine Funktion für das Individuum erfüllt (oder mal erfüllt hat), dann kann ich doch gleich sehr viel wertschätzender an die „Erziehung“ heran gehen. In vielen Fällen ist nämlich das „inadäquate“ Verhalten eine Bewältungs- oder Überlebensstrategie für den Einzelnen. Und diese sollte gewürdigt werden. Ich plädiere für mehr Respekt vor dem Gegenüber, sei es ein Kind, ein Erwachsener oder ein Hund (andere Tiere natürlich auch). Weg von dem strikten in die Form pressen und Verhalten anpassen, hin zum Verstehen und Verständnis und mehr Toleranz für den Einzelnen. Man sollte Verhalten und Lebensleistungen anerkennen, anstatt auf die herab zu blicken und sie zu verurteilen, anstatt das Schema F anzulegen und daran zu messen ob wir ein wertvoller Teil der Gesellschaft sind oder gut erzogen wurden. Ich wünsche mir, dass man einen Blick hinter die Kulissen wirft, sich auf Ursachenforschung begibt, dann an diesen unterstützend eingreifen kann, anstatt die Keule zu schwingen und problematisches Verhalten auszutreiben.

Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen. Jedes Verhalten ist nicht nur berechtigt, sondern hat auch seine guten Seiten. Ob ein Verhalten eine Stärke oder Schwäche ist, ob es gut oder schlecht ist, bestimmt Derjenige, der es betrachtet. Warum versuchen wir dann nicht das Gute in dem Verhalten zu sehen und es in die „richtigen“ Bahnen zu lenken? Ein Kind, was sich zum Beispiel schnell ablenken lässt, kann sich im Umkehrschluss gut auf viele Dinge einlassen und kann ggf. mehr erfassen, als Jemand, der sich gut auf eine Sache konzentrieren kann. Das kann in verschiedenen Berufen später sehr hilfreich sein. Jedes Verhalten hat seine berechtigte Ursache. Kein Verhalten wird ohne einen bestimmten Grund gezeigt – ob bewusst oder unbewusst ist dabei nicht immer klar.

Wenn ich also das nächste Mal mit einem Problemverhalten eines Anderen konfrontiert werde, sollte ich mich also zunächst mal nach der Motivation und dem Grund für das Verhalten fragen. Nur wenn ich an den Ursachen ansetze und mein Gegenüber bei der Entwicklung einer „adäquateren“ Lösungsstrategie unterstütze, kann Verhalten langfristig und fair verändert werden. Denn auch wenn das Problemverhalten zunächst eine Lösung für das Individuum ist, kann es trotzdem zu negativen Konsequenzen und anderen Problemen führen. Denken wir hier noch einmal kurz an den aus Angst pöbelnden Hund an der Leine: Er zeigt sein Verhalten als einen Lösungsversuch für seine Angst und Unsicherheit in der Situation. Allerdings bringt ihm dieses Verhalten auch neue Probleme – sei es mit seinem Besitzer, der ungehalten wird, aber auf jeden Fall körperlich, denn die ständigen Stressausbrüche belasten den Körper immens.

Es ist also an uns als Hundebesitzer, Eltern, Erzieher/Pädagogen und Hundetrainer, ein Verhalten nicht nur als „schlecht“ anzusehen und es zu verurteilen, sondern es anzuerkennen als das was es ist: Eine Lösung des Individuums für ein zugrundeliegendes Problem. Und zwar die beste Lösung, die es für sich selbst finden konnte. Und es liegt dann an uns, das zugrundeliegende Problem zu erkennen und gemeinsam mit dem Kind/Hund an einer für alle Beteiligten besseren Lösung zu arbeiten.

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