Hundeerzieherin/Verhaltensberaterin IHK
Erziehung vs. Individualität (13.12.2018)

Erziehung vs. Individualität (13.12.2018)

 Dezember 2018. Immer wieder hört man sowohl in der „Menschenwelt“ als auch in der „Hundewelt“, dass man erziehen muss. Das Kind muss erzogen werden, der Hund muss erzogen werden. Basta. Und wenn es nicht richtig erzogen ist, dann hat man als Eltern oder Pädagoge oder Hundehalter oder Hundetrainer versagt. Doch wer bestimmt eigentlich wann ein Kind oder ein Hund wirklich erzogen, wenn nicht sogar gut erzogen, ist? Ich als Eltern oder Hundehalter scheinbar nicht.

Denn immer sagt ein Außenstehender mir, ob und wie gut ich erzogen, oder ob ich auf ganzer Linie versagt habe. Im Sozialbereich spricht man sogar von der „Stärkung der Erziehungskompetenz“ – was man genau darunter versteht habe ich auch nach gut zehn Jahren in der Sozialen Arbeit noch nicht herausfinden können. Vielleicht sollte man diesen Begriff auch in der Hundewelt etablieren, könnte lustig werden. Dann arbeite ich als Hundetrainer demnächst nicht mehr mit den Besitzern an deren Timing, dem Verständnis für den Hund oder anderen Fertigkeiten, sondern wir arbeiten an der Stärkung der Erziehungskompetenz, damit die Besitzer demnächst kompetent genug sind, ihren Hund vernünftig zu erziehen. Die Idee ist ebenso amüsant wie schlecht, denn nichts ist schwammiger als eine hochtrabende Phrase. Aber zurück zum eigentlichen Thema. Erziehung. Kinder sollen von ihren Eltern, im Kindergarten und in der Schule erzogen werde, Hunde von ihren Besitzern und in der Hundeschule. Doch zu welchem Zweck? Worum geht es wirklich?

Als ich damals frisch aus dem Studium kam, hatte ich die Idee, es geht darum ein Kind in seiner individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern[1]. Demnach sollten doch die Erziehung auf das Individuum angepasst werden: Förderung der Stärken und Unterstützung im Ausgleich der Schwächen. Wenn auch nicht im Gesetz festgeschrieben, sehe ich den Erziehungsauftrag für Hunde ebenso. Individualität an erster Stelle. Im Folgenden werden ich der Einfachheit halber, wenn ich von Erziehung spreche, jeweils die Erziehung von Kind und Hund meinen, denn in den Grundsätzen unterscheiden sich diese nur geringfügig.

Nach einigen Jahren sowohl im Jugendhilfebereich als auch im Hundetraining muss ich leider feststellen, dass Individualität scheinbar out ist. Zumindest in vielen Einrichtungen (Schule, Kita, Jugendhilfe) und Hundetrainingsstätten, aber auch bei den Besitzern und Eltern zu Hause. Funktionieren soll man gefälligst. Und zwar Pronto. Und wer nicht funktioniert, wie es die Gesellschaft erwartet, der ist schlicht und ergreifend nicht gut erzogen oder vielleicht sogar krank. Was eine defizitäre Sicht der Dinge. Wir leben in einer Welt, in der Probleme beseitigt werden müssen, anstatt Stärken zu fördern. Wir leben in einer Gesellschaft die so defizitorientiert ist, dass wir oft das Gute weder wahrnehmen noch schätzen können. Und ja, irgendwie ist das auch logisch. Von klein auf werden wir als Mensch dazu erzogen, dass wir uns anpassen müssen, dass wir gehorchen und ein wertvoller Teil unserer Gesellschaft sein sollen. Und jeder Fehltritt muss schnellst möglichst ausgemerzt werden. Wir wollen nicht auffallen in der grauen Masse und wenn doch, dann nur um bewundert zu werden, weil wir vielleicht ein wenig besser sind als Andere (zumindest denken wir das). Wo bleibt denn da der Individualismus? Wo bleibe ich als Mensch? Wir definieren uns über unser Ansehen in der Gesellschaft, ob wir in die Norm passen und wertvoll sind. Und wenn wir aus der Reihe tanzen, fühlen wir uns anormal, krank oder ausgestoßen. Das macht unserer Erziehung mit uns. Defizitorientierung. Wir sind nicht gut erzogen worden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Erziehung in vielen Köpfen bedeutet, das Individuum in eine Form zu pressen, damit es eine kleine Marionette im großen Puppentheater der Welt wird und bloß nicht aus der Reihe tanzt.

Versteht mich nicht falsch. Ich denke es ist wichtig, gewisse Standards, Normen und Gesetzte zu haben, die von Allen befolgt werden. Ich denke es ist wichtig, sich in einem gewissen Maß an die Gesellschaft in der man lebt, anzupassen und nach deren Regeln zu leben. Sowohl Menschen als auch Hunde müssen das lernen. Das steht außer Frage. Aber darum geht es mir auch gar nicht. Es geht vielmehr um den Weg dahin, die Art der Erziehung und die Sicht auf das Individuum. Das ist der Punkt der mir Bauchschmerzen bereitet, der mich manchmal auch wütend und fassungslos zurück lässt. Manchmal kann ich nur noch mit dem Kopf schütteln und verzweifeln. Die Sicht auf das Individuum ist häufig so defizitär und von Oben herab, dass ich mich frage wo die ganze Menschlichkeit geblieben ist.

Jedes Verhalten, was scheinbar nicht in die Norm passt, wird als unangebracht und störend deklariert, muss sich verändern, egal wie. Anpassung um jeden Preis. Das habe ich sowohl im Bereich der Kindererziehung als auch der Hundeerziehung schon mehrfach erlebt und es macht mich traurig. Es geht nicht mehr um das Individuum. Es geht darum, ob es Probleme macht oder sich brav angepasst hat. Häufig stellt sich nicht mal mehr die Frage nach dem Warum. Warum macht Kind oder Hund das gerade? Gibt es vielleicht eine logische Erklärung dafür? Bei näherer Betrachtung wäre die Antwort darauf wohl immer „Ja“. Denn jedes Verhalten hat für Denjenigen, der es zeigt, eine Funktion. Das muss für uns von außen betrachtet weder nachvollziehbar noch logisch sein, aber es ist so. Jedes Verhalten hat eine Ursache. Und ich kann ein Verhalten nur ändern, wenn ich die Ursache entweder abschalten kann oder ein anderes Verhalten passend zur Ursache erlernen kann. Punkt. Zumindest langfristig und ohne dem Individuum Schaden zuzufügen. Doch was meine ich damit genau?

Nehmen wir zunächst ein Beispiel aus der Menschenwelt. Wir haben eine Jugendliche, etwa 14 Jahre alt, die durch viele schwierige Umstände eine Angstproblematik entwickelt hat und so belastet ist, dass sie nicht mehr in die Schule gehen kann. Was ist in diesem Fall das oberste Ziel? Richtig, dass die Jugendliche ganz dringend wieder beschulbar gemacht wird. Die Formulierung „gemacht wird“ ist hier nicht zufällig gewählt. Denn die Eltern, Jugendhilfe und andere Unterstützer sind nun dazu verpflichtet, dies als oberstes Ziel zu gewährleisten. Denn Schule ist wichtig. Ich übertreibe gezielt. Natürlich ist die Schule wichtig, aber wäre es an diesem Punkt vielleicht nicht wichtiger, an der Angstproblematik des Mädchens und deren Ursache zu arbeiten? Ich denke schon. Zumal sich das Mädchen wohl nicht die Angstproblematik ausgesucht hat. Und trotzdem ist dies in gewisser Weise ein angebrachtes gesundes Verhalten auf ungesunde und unangebrachte Dinge, die das Mädchen erlebt hat. Nicht falsch verstehen, es gibt viele tolle Schulen, Jugendhilfemitarbeiter und Eltern, die das ebenso handhaben und nach den Ursachen schauen. Leider habe ich das Gefühl, diese befinden sich in der Unterzahl. Und so geht es darum zu funktionieren, wie es der Maßstab verlangt.

In der Hundewelt könnte es folgendes Verhalten sein, was als sehr störend empfunden wird. Der Hund pöbelt an der Leine, sobald er andere Hunde sieht. Das macht er mit Sicherheit nicht, weil es ihm so viel Spaß macht. Denn diese Aufregung verbraucht immense Energie und setzt dem Hund einen extremen Stress aus. Also nicht wirklich förderlich für den Organismus. Klar, man könnte jetzt sagen, der Hund könnte doch einfach ruhig an anderen Hunden vorbei gehen und dann hätte er den Stress nicht. Kann er aber scheinbar nicht, sonst würde er es wohl machen. Also ist die Frage, welche Funktion erfüllt das Pöbeln an der Leine für diesen einen Hund (da können durchaus unterschiedliche Motivationen dahinter stecken)? Gehen wir man davon aus, der Hund ist unsicher und hat Angst vor anderen Hunden. Die Leine hindert ihn an der Flucht oder dem Stehen-bleiben. Der Hund fühlt sich hilflos und will aus der Situation raus. Was bleibt, wenn Flucht und Erstarren nicht mehr zur Verfügung stehen? Genau, der Angriff. Mit dem Pöbeln an der Leine zeigt der Hund in diesem Fall dann also, dass die Situation für ihn so nicht auszuhalten ist und er den „Gegner“ vertreiben möchte, also sich Selbst in Sicherheit wiegen möchte. Wenn ich aber nur das Problem der Aggression an der Leine im Fokus habe, habe ich nicht die Chance die Ursache zu erkennen und dem Hund ggf. die nötige Sicherheit zu vermitteln. Vielleicht bekomme ich mit viel Ablenkung oder Druck das Symptom Aggression in den Griff, der Hund wir aber trotzdem das Problem in der Situation behalten. Weder fair noch effektiv.

Ich vergleiche das gerne mit einem Holzsplitter, den man im Finger stecken hat und der sich entzündet hat. Kein Mensch würde auf die Idee kommen alleine die Schmerzen mit Schmerzmittel zu behandeln, ohne die Ursache, nämlich den Splitter, zu entfernen. Warum ist das also bei Verhalten anders? Wenn ich anerkenne, dass jedes Verhalten eine Funktion für das Individuum erfüllt (oder mal erfüllt hat), dann kann ich doch gleich sehr viel wertschätzender an die „Erziehung“ heran gehen. In vielen Fällen ist nämlich das „inadäquate“ Verhalten eine Bewältungs- oder Überlebensstrategie für den Einzelnen. Und diese sollte gewürdigt werden. Ich plädiere für mehr Respekt vor dem Gegenüber, sei es ein Kind, ein Erwachsener oder ein Hund (andere Tiere natürlich auch). Weg von dem strikten in die Form pressen und Verhalten anpassen, hin zum Verstehen und Verständnis und mehr Toleranz für den Einzelnen. Man sollte Verhalten und Lebensleistungen anerkennen, anstatt auf die herab zu blicken und sie zu verurteilen, anstatt das Schema F anzulegen und daran zu messen ob wir ein wertvoller Teil der Gesellschaft sind oder gut erzogen wurden. Ich wünsche mir, dass man einen Blick hinter die Kulissen wirft, sich auf Ursachenforschung begibt, dann an diesen unterstützend eingreifen kann, anstatt die Keule zu schwingen und problematisches Verhalten auszutreiben.

Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen. Jedes Verhalten ist nicht nur berechtigt, sondern hat auch seine guten Seiten. Ob ein Verhalten eine Stärke oder Schwäche ist, ob es gut oder schlecht ist, bestimmt Derjenige, der es betrachtet. Warum versuchen wir dann nicht das Gute in dem Verhalten zu sehen und es in die „richtigen“ Bahnen zu lenken? Ein Kind, was sich zum Beispiel schnell ablenken lässt, kann sich im Umkehrschluss gut auf viele Dinge einlassen und kann ggf. mehr erfassen, als Jemand, der sich gut auf eine Sache konzentrieren kann.

 

[1] Vgl. §1 (3) Zif. 1 SGB VIII

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