Hundeerzieherin/Verhaltensberaterin IHK
Hütehunde Realitäts-Check (03.10.2021)

Hütehunde Realitäts-Check (03.10.2021)

Sowohl bei Hundemenschen, als auch bei Nicht-Hundemenschen gibt es ja je nach Rasse gewisse Ideen und Zuschreibungen, wie sich die Rasse verhält, was sie charakterisiert und was sie so brauchen. Bei vielen Rassen liegen dir Vorstellung leider sehr weit ab von der Realität. Gerade in Bezug auf Hütehunde tauchen immer wieder ähnliche Vorstellungen und Aussagen auf. Nicht nur von fremden Menschen, sondern vielfach auch von den Besitzern des Hundes werden die folgenden Themen immer wieder so  oder so ähnlich benannt. Doch wie ist es denn wirklich?

  1. Der jagt nicht, der will nur spielen/hüten/gucken etc.

Hütehunde, vor allem Koppelgebrauchshunde (wie Border Collie, Australien Shepherd, Kelpie etc.), sind für die Arbeit und das Treiben am Vieh (Schafe, Rinder) gezüchtet und jahrelang auf die Arbeitseigenschaften selektiert worden. Dabei ist das sogenannte „Hüten“ nicht von be“hüten“ abgeleitet und hat auch wenig mit dem Arbeiten der Schäferhunde an großen Herden gemein. Die Grundlage der Arbeit der Koppelgebrauchshunde ist ihre Jagdmotivation in abgewandelter und modifizierter Form. Schaut man sich das Jagdverhalten und seine Bestandteile genauer an, haben wir diese auch im Hüteverhalten der Koppelgebrauchshunde: Vorstehen, Anschleichen, Hetzen (in gemäßigter Form das Treiben). Das bedeutet aber eben auch, dass diese Hunde auf ihr modifiziertes Jagdverhalten selektiert wurden und werden. Dementsprechend zeigen sie dies auch außerhalb ihrer Arbeit vom Vieh. Da auslösende Reize für das Jagdverhalten unter anderem (schnelle) Bewegungsreize sind, können ebenso Wild, Katzen, Fahrräder, Fahrzeuge, Bälle, Jogger etc. das Jagdverhalten auslösen. Aber nur weil der Hund dies genetisch zeigt, heißt nicht, dass es so im Alltag auch erwünscht ist akzeptabel ist. Hier ist der Mensch gefragt, der seinen Hund erzieht und ihm beibringt, wo Jagdverhalten erwünscht ist und an welchen Stellen nicht. Übrigens: Nur weil der Hund am Ende z.B. den Hasen nicht erlegt oder nur ein paar Meter hinterherrennt ist und bleibt es trotzdem jagen.

Bei den Schäferhunden und altdeutschen Hütehunde kommt zu der Jagdmotivation noch das begrenzen und „verteidigen“ eine Grenze dazu. Diese Hunde sollen in Wanderschafhaltung die Schafe auf einer bestimmten Fläche halten. Sie sind sozusagen mobile Zäune, die das Vieh, sollte es zu nah an die Begrenzung kommen, oder sie übertreten wieder zurücktreiben (ggf. mit Einsatz ihrer Zähne). Diese Veranlagung wird im Alltag oft auch im Umgang mit anderen Hunden oder auch Menschen gezeigt, wobei es hierbei meist um ein allgemeines Begrenzen der Bewegung geht und nicht an bestimmte nachvollziehbare Grenzen gebunden ist. Auch hier gilt: das Verhalten ist zwar durch die Genetik der Hunde erklärbar, sollte aber durch Erziehung und Handling des Menschen so angepasst werden, dass diese Hunde ihr angeborenes Verhalten nicht an anderen Menschen/Hunden etc. ausleben.

  1. Das Anschleichen/Begrenzen ist normal. Das machen diese Hunde so.

Wie bereits im vorherigen Punkt erklärt gehört das Anschleichen oder auch das Begrenzen bei den Hütehunden zu der genetischen Ausstattung und wird neben der Arbeit am Vieh auch in anderen Situationen gezeigt. Grundsätzlich ist dieses Verhalten also ein normales Verhalten dieser Hunde in Bezug auf eine mögliche Beute. Genetisch fixierte Verhaltensweisen sind oft selbstbelohnend und werden auch in Stress- oder Unsicherheitssituationen gezeigt. Weiterhin wird das Hüte/Jagdverhalten durch Bewegungsreize ausgelöst und dementsprechend auch in anderen Situationen gezeigt. Diese Hunde wurden durch Zucht und Selektion mit einem übersteigerten Jagdverhalten ausgestattet, da sie sonst nicht nutzbar für die Arbeit wären. Auch wenn diese Hunde dadurch dazu neigen, andere Hunde/Menschen anzuhüten oder zu begrenzen, ist das kein Verhalten, was zu der sozialen Kommunikation mit anderen Sozialpartnern gehört. Kurz und knapp gesagt: Hüten/jagen/begrenzen von Beute im Arbeitseinsatz ist gewollt und ok, gleiches Verhalten in Bezug auf anderen Hunde/Menschen ein absolutes No-Go. Jeder Hund kann lernen, dieses Verhalten nicht bei anderen Hunden oder Menschen etc. zu zeigen.

  1. Der liebt seinen Ball/Frisbee/Stock

Und auch hier haben wir wieder das Jagdverhalten. Wie bereits vorher schon beschrieben wird Jagdverhalten durch Bewegungsreize ausgelöst und nichts anderes ist der fliegende/rollende Ball/Stock/Frisbee oder gar die Reizangel. Jagdverhalten per se ist selbstbelohnend – am meisten der Teil des Loshetzens. Der Hund bekommt dabei die nötige Energie zur Verfügung gestellt um eine komplette Hetzjagd zu meistern. In der Natur kommt danach im besten Fall das Beute erlegen, fressen und ruhen. Bei Ballspielen sieht das allerdings anders aus: Nach der ersten kurzen Hatz folgt sofort die nächste mit dem nächsten Energieschub und der Selbstbelohnung. Das wiederholt sich in der Regel über Minuten oder manchmal sogar Stunden am Tag. Und mit jedem Loshetzen wird der Hund innerlich mehr gepusht. Ohne Frage: die meisten Hunden lieben das, da der Körper sie intern belohnt und es ein gutes Gefühl gibt. Das Problem ist allerdings folgendes: Das körpereigene Belohnungszentrum ist sehr eng mit dem Suchtzentrum verknüpft. Schnell wird aus dem Vergnügen eine Sucht mit allen Auswirkungen und Folgen wie auch bei uns Menschen. Suchtverhalten macht auf Dauer krank und schwächt den Organismus. Der zweite Punkt, der eine ebenso große Rolle spielt ist das dauerhaft erhöhte Stresslevel, welches diese Hunde durch ihren Alltag begleitet, denn die Stress“hormone“ brauchen relativ lange, teilweise sogar mehrere Tage um abgebaut zu werden. Dementsprechend stehen diese Hunde meist unter Dauerstress und auch der macht wiederrum krank. Stress wird übrigens nicht nur durch negative Einflüsse ausgelöst, sondern auch durch solche „positiven“ Dinge. Deswegen gilt für mich ganz klar: Hetzspiele sollten für Hunde absolut tabu sein.

Übrigens: Stöcke können sehr gefährlich sein, wenn der Hund diese jagt oder sie auch einfach nur trägt. Die Verletzungen, die hierbei entstehen können, sind nicht selten lebensbedrohlich.

  1. Der weiß schon wann er müde ist

Genau das wissen viele Arbeitsrassen leider nicht. Sie sind von uns züchterisch so selektiert worden, dass sie 24 Stunden Allzeit-bereit sind und dabei auch ihre eigenen Grenzen nicht wahrnehmen können. Denn das würde sie für den Einsatz unbrauchbar machen. Ein Schäfer kann keinen Hund gebrauchen, der die Herde stehen lässt, weil er jetzt müde ist. Er kann keinen Hund gebrauchen, der nachts weiterschläft, obwohl die Tiere ausgebrochen sind. Deswegen sind unsere Arbeitshunde (übrigens gilt das auch für Jagdhunde) so. Diese Hunde sind ursprünglich auch nicht für unser reizüberflutendes Leben gezüchtet. Sie sollten arbeiten und wurden in den Ruhepausen „weggepackt“ zum Ausruhen. Doch diese Ruhephasen sind im modernen Zusammenleben mit den Hunden vielfach nicht gegeben und die Hunde schaffen es oft auch nicht, selbst zur Ruhe zu kommen. Das ist etwas, was sie beigebracht bekommen müssen und oft nur schwer lernen und verinnerlichen. Hier ist wieder der Mensch gefragt, der die Verantwortung für seinen Hund übernimmt und ihm ausreichend Ruhe verschafft. Die Ruhephasen der Hunde sollten auf 24 Stunden gerechnet um die 18 Stunden betragen.

  1. Die Hütehunde brauchen extrem viel Bewegung und Auslastung

Jain. Das stimmt nur bedingt. Hütehunde brauchen, so wie alle anderen Arbeitshunderassen auch, ausreichend Bewegung und Auslastung. Allerdings ist die Qualität hier bedeutend wichtiger als die Quantität. Natürlich ist bei einem sehr agilen Hund der tägliche Auslauf von 30 Minuten (regelmäßig) vermutlich zu wenig. Aber es bedarf auch nicht jeden Tag eines Halbmarathons um die Hunde auszulasten. Im Durchschnitt kann man von 1,5-2 Stunden Spaziergehzeit pro Tag ausgehen, die vollkommen ausreichend sind. Natürlich gibt es auch Hunde, die mit Weniger zurechtkommen und glücklich sind. Dabei spielt aber nicht nur die Dauer des der Bewegung eine große Rolle, sondern auch wie diese gestaltet wird. Ich finde es wichtig, dass die Hunde den Spaziergang zu „Zeitung lesen“ nutzen können und sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen. Ein Beschäftigungsprogramm während des Spaziergangs ist eher kontraproduktiv. Ein Ausdauertraining wie zum Beispiel Radfahren ist ein Kann, aber kein Muss bei den Hütehunden. Läuft der Hund hier an der Leine, sollte diese Zeit eher kürzer gestaltet werden (um die 30 Minuten) während im Freilauf durchaus die Runde auch eine Stunde dauern kann. Auch hier gilt: weniger ist mehr. Es reicht vollkommen 1-2 mal pro Woche Rad zu fahren.

Das Thema Auslastung ist dann ein ganz eigenes. Auch hier spiel die Qualität eine übergeordnete Rolle. Eine passende Beschäftigung, die den Hund nicht überdrehen lässt, sondern ruhig, konzentriert und koordiniert arbeiten lässt, ist den hektischen hochpushenden Beschäftigungen vorzuziehen. Auch hier benötigt es nicht jeden Tag ein riesen Programm. Die richtige Auslastung im angepassten Maß ist wichtig.

Merke: wenn der Hund hektisch wird und sogar bellend oder schreiend bei der Beschäftigung ist, ist es definitiv die Falsche (oder falsches Training).

  1. Nach 2 Stunden Gassi ist der noch nicht müde, da ist er erst warm gelaufen

Leider kann man die Auswirkungen von Unterforderung und Überforderung kaum unterscheiden. Gerade wenn Hunde, insbesondere Hütehunde zu wenig Schlaf/Ruhe haben und zu viel Beschäftigung oder Bewegung, wirken sie wie aufgedreht und als ob sie nicht müde werden würden. Dabei passt hier im wahrsten Sinne „nach müde kommt doof“. Warum das so ist, wurde bereits weiter oben erläutert, nämlich dass diese Art von Hunden ihre eigenen Grenzen nicht kennen. Ein weiterer Aspekt ist oft, dass sie Hütehunde gerne auch mal in Rage rennen. Das schnelle laufen an sich ist hier oftmals selbstbelohnend, sodass sie sich während des gesamten Spaziergangs immer weiter hochfahren und am Ende total drüber sich und so wirken, als müsste jetzt noch viel mehr mit ihnen gemacht werden. Wenn Hunde ruhig und entspannt Spazieren gehen, sollten sie am Ende nicht aufgedreht sein, sondern entspannt. Das funktioniert allerdings nur, wenn man auf dem Spaziergang darauf achtet, dass der Hund sich nicht in irgendeiner Weise hochpusht, sondern gemütlich läuft und in Ruhe „Zeitung“ liest.

  1. Border Collies sind alle durchgeknallt und neurotisch

Jain. Grundsätzlich haben die meisten Border Collies die „Veranlagung“ dazu durchgeknallt und neurotisch zu werden. Das liegt wie schon weiter oben beschrieben an ihrem Einsatzgebiet und unserer Zucht. Für die Arbeit brauchen diese Hunde alle diese Fähigkeiten, die sie aber bei falscher Haltung schnell zu neurotischen Hunden werden lassen. Es heißt immer, ein Border Collie sei leicht zu erziehen. Das finde ich ehrlich gesagt gar nicht. Denn einen Border Collie sein komplettes Leben lang möglichst Neurosenfrei zu halten, bedarf einer andauernden Arbeit, denn diese Hunde suchen sich im Alltag immer wieder neue Wege, wie sie ihren nächsten Kick erlangen können. Das bedeutet für die Besitzer: „Immer“ ein Auge auf den Hund haben, aber ohne dass dieser es merkt. Keine leichte Aufgabe. Aber wenn man einen Border Collie so erzieht und ausbildet, dass ausreichend Ruhephasen hat, eine angemessene Beschäftigung und ausreichend (nicht zu viel) Bewegung UND dazu noch darauf achtet, dass er sich im Alltag nicht ständig kickt, dann können diese Hunde wie alle anderen Hunde auch, nicht-durchgeknallt und neurosenfrei leben.

  1. Der Australien Shepherd ist der Border Collie light

Auf gar keinen Fall. Beide Hunderassen zählen zwar zu den Koppelgebrauchshunden, sind aber in der Zucht und ihrem Einsatzgebiet sehr unterschiedlich. Während der Border Collie ein „Fachidiot“ ist, der nur zum Arbeiten des Viehs gedacht ist, hat der Aussi noch anderen Aufgaben. Er soll die Herde zwar auch treiben, ist aber zusätzlich für das Bewachen und ein Stück weit beschützen zuständig. Das bedeutet zwar, dass er einen weniger/anders ausgeprägten Jagdtrieb hat, nicht so schnell neurotisch wird und vielleicht auch ein wenig ruhiger sein kann, allerdings bringt er ganz andere „Themen“ mit sich. Viele ursprünglichen Aussis finden fremden Menschen (und oft auch fremde Hunde) ziemlich doof. Sie sind reservierter und neigen dazu nicht nur ihr Revier, sondern auch ihre Menschen oder eine anderen Beute zu verteidigen. Dabei haben sie meist weniger will-to-please (der Wille zu Gefallen/Kooperieren), sondern sollen aufgrund ihrer ursprünglichen Aufgaben, selbstständiger Arbeiten und nicht so leicht beeindruckbar sein. Ein Hund der bewachen soll, muss sich auch gegen fremde Eindringlinge durchsetzen können – egal was diese tun.

Gerade deswegen ist eine Abstufung, welcher dieser Hunde leichter zu halten ist, total abwegig, da jeder seine eignen Themen und Verhaltensweisen mit sich bringt.

Grundsätzlich könnte man diese Liste mit Aussagen vermutlich noch endlos fortführen. Wenn man sich für eine Hunderasse entscheidet, dann sollte man sich auch immer ihr ursprüngliches Aufgabengebiet anschauen, denn aufgrund dessen wurden diese Hunde selektiert und geformt – nicht nur in ihrer Arbeit, sondern auch in ihrer Selbstständigkeit, der Jagdmotivation, den Umgang mit fremden Menschen/Hunden, die Führigkeit und noch viele weitere Aspekte. Und ja, natürlich gibt es auch immer wieder Hunde einer Rasse, die sich nicht Rassetypisch verhalten – aufgrund dieser Hunde dann aber allgemeine Aussagen zu treffen ist fatal für Hund und Mensch und kann im schlimmsten Fall gefährlich werden.

Die Hunde sollten immer so gehalten werden, dass es ihnen gut geht. Dazu gehört aber auch, dass ich als Mensch dafür verantwortlich bin, dass mein Hund keine psychischen Störungen (wie Neurosen etc.) entwickelt – siehe Ballspiele und co. Der Mensch hat den (Hüte)hund zu dem gemacht was er ist und ist demnach auch dafür verantwortlich, dass er ausreichend für ihn Sorge trägt (ausreichend Pausen und Schlaf, angemessene Beschäftigung etc.).

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